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Trakls 4. Phase (1914)

Als Trakl im August 1914 als Militärapotheker ins Heer einberufen wurde, ahnte er noch nichts von den katastrophalen Zuständen, die an der Front herrschten. Ob er die Begeisterung der vielen anderen Expressionisten seiner Zeit teilte, ist unklar. Der deutsche Schriftsteller Georg Heym notierte dazu in seinem Tagebuch (vom 6. Juli 1910):
"Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut, ich wäre der Erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul, ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln."
Der anfängliche Enthusiasmus der Soldaten sollte sich beim zehrenden Grabenkrieg schon bald einstellen. Georg Trakl, der ohnehin psychisch labil und drogenabhängig war, erlitt beim Versorgen der Verletzten einen Nervenzusammenbruch und wurde ins Militärlazarett nahe Grodek eingeliefert, wo er sein populärstes Gedicht "Grodek" schreiben sollte. Zum Verständnis und der Besonderheiten von Trakls Lyrik soll die folgende Gedichtanalyse und Interpretation Grodeks helfen:

Das Gedicht Grodek von Georg Trakl wurde im September 1914 verfasst und erschien im darauffolgenden Jahr in der Literaturzeitschrift Der Brenner, herausgegeben von Ludwig von Ficker. Nach meinem ersten Leseeindruck handelt das Gedicht von den Kriegseindrücken des lyrischen Ichs, dass die Schrecken des Krieges darstellt.

Formal besteht das siebzehnzeilige Gedicht aus nur einer Strophe. Metrik, Kadenz und Reimschema sind unregelmäßig, was auf Trakls Kriegssituation hindeutet. Lyrik, die während oder kurz nach dem Krieg oder einem Kriegserlebnis entstanden ist, weist häufig dieses typische formale Chaos auf (siehe auch "Inventur" von Günter Eich).

Trotz der auffälligen Einstrophigkeit lässt sich das Gedicht in vier Sinnabschnitte unterteilen. Möglich macht dies die von Trakl klar verwendete Interpunktion in der Syntax. Abschnitt 1 (V.1-6) beschreibt eine abendliche Situation in einer von sterbenden Menschen geprägten Landschaft. Im zweiten Abschnitt (V.7-10) wird der Zustand aus dem ersten Abschnitt weiter klimaxartig gesteigert, welcher seinen Höhepunkt im hoffnungslosem Ende (V.10) findet. An diesem Punkt befindet sich ein deutlicher Einschnitt, da im dritten Abschnitt (V.11-14) die Dramatik kurzfristig abfällt. Die Natur wird erhaben, majestätisch (V.11) dargestellt, bevor der Ton im Gedicht wieder melancholischer (V.12-14) wird. Im letzten Sinnabschnitt (V.15-17) wird die jetzige Situation (V.15-16) mit den "ungebornen Enkel[n]" auf die Zukunft bezogen, um so die weitläufigen Folgen des Krieges aufzuzeigen.

Zu Beginn einer ausführlichen Interpretation ist es immer von Vorteil, den Gedichttitel zu deuten. Grodek (heute: Horodok) war und ist heute immer noch eine Stadt in Galizien. 1914, als das Gedicht von Trakl verfasst wurde, war Grodek der Frontverlauf zwischen dem österreich-ungarischen- und dem russischen Heer. Trakl selbst war als Freiwilliger Sanitäter für die k. u. k. Armee im Dienst und erlebte so den Krieg direkt mit.
Inhaltlich beginnt das Gedicht mit einem Vers, der zwei Wörter in Einklang bringt, die Trakl durch seine gesamte Dichtung hindurch immer wieder verwendet: Zum einen den "Abend" (V.1), der im Gedicht Grodek die Situation einer nahenden Apokalypse bzw. eines nahenden Endes unterstreicht (vgl. Der Gott der Stadt, Georg Heym, V.5) und zum anderen die "herbstlichen Wälder" (V.1), deren Blätter in einem strahlenden Gelb (V.2) erscheinen und die Landschaft großflächig mit ihrem Laub (V.2 "goldenen Ebenen) bedecken. Betrachtet man nun den Abend sowie den Herbst in ihrem natürlichen Zyklus von Morgen-Mittag-Abend-Nacht und Frühling-Sommer-Herbst-Winter, fällt natürlich unmittelbar das bevorstehende Ende dieses Ablaufes auf. Die "tödlichen Waffen" (V.2) der Soldaten "tönen" (V.1) durch die sonst so ruhige und schöne Natur aus "goldenen Ebenen" (V.2) und "blauen Seen" (V.2). Das lyrische Ich verknüpft hierbei die unberührte Natur mit den Schrecken des Krieges, wobei sich diese hauptsächlich durch akustische Geräusche, wie z..B. das leicht euphemistisch angehauchte "[T](...)önen" (V.1) der Gewehre oder "[K](...)lage[n]" (V.5) der Soldaten, bemerkbar macht. Die "zerbrochenen Münder" erinnern an die entzweibrechenden Dachdecker aus Jakob van Hoddis' Weltende (1911) und stehen symbolisch für die vielen Verletzten, die "wild(...)" (V.5) durcheinander nach Hilfe, höchstwahrscheinlich sogar nach einem Sanitäter, schreien.
Die Schreie der Soldaten verstummen schon bald im "Weidengrund" (V.7), der in der Umgebung des ländlichen Grodek, wo die Schlacht hauptsächlich stattfand, ein Großteil der Landschaft einnahm. Es fehlt an medizinischer Versorgung für die schier unendliche Zahl von verletzten Soldaten. Trakl selbst hatte kurz vor seinem Nervenzusammenbruch rund 100 Menschen alleine medizinisch zu versorgen. Danach wird der Satzbau äußerst konfus: Es reiht sich ein zürnender Kriegsgott, vermutlich der römische Mars (dafür spräche das "rote Gewölk") oder der griechische Ares (im Grunde dem des Mars ähnlich, Trakl besaß fundierte Kenntnisse in der griechischen Mythologie), an das "vergossne Blut" (V.9) der Krieger. Währendessen "ging" der Abend abrupt in die Nacht über, da von nun an der Mond die toten Soldaten kühl anleuchtet (V.9), die am Tage noch im Licht der düsteren, hoffnungslosen Sonne um Hilfe riefen, ehe die Nacht die Sonne, und damit auch das letzte Leben, "umfing" (V.4). Mit der Metapher "Alle Straßen münden in schwarze Verwesung" (V.10) erreicht das Gedicht seinen dramatischen Höhepunkt. Die Landschaft in und um ganz Grodek ist von toten Soldaten und absoluter Zerstörung geprägt (siehe Anhang: Bild von Otto Dix). Nach dieser Aussage befindet sich eine deutliche Zäsur im Gedicht. Statt einer Konkretisierung der Zustände schildert das lyrische Ich erneut die Natur. Und dort ist keineswegs eine Dramatisierung der Ereignisse zu erkennen, denn es wird die Schönheit der Landschaft angepriesen (V.11).

Eigentlich sollte man mit Interpretationen, die zu sehr auf den Autor abzielen, immer nur mit Vorbehalt aussprechen. In diesem Gedicht ist der Einfluss und die Übertragbarkeit auf Trakls Leben aber dermaßen unverkennbar, dass man z.T. vom lyrischen Ich auf den Autor schließen kann und sogar muss. Man kann es sich in etwa so vorstellen: Trakl sitzt im Militärlazarett nahe Grodek, geschwächt durch den Nervenzusammenbruch, und schreibt wie im Wahn und vermutlich unter Schmerzmitteln/Drogen an seinen letzten Gedichten, darunter auch Grodek. Dabei findet sich auch seine Schwester (V.12) in Grodek wieder, die in seiner Lyrik nahezu omnipräsent erscheint und nun wie ein "Schatten" (V.12) über ihm hängt. Die auffälligen "sch" Laute wirken fast so, als wünsche sich Trakl seine Schwester Grete just in dem Moment zu sich.
Im letzten Sinnabschnitt (V.15-17) nimmt die Dramatik dann mittels einer Emphase im Gedicht wieder an Fahrt auf. Zuvor tönten nur noch "leise" (V.14) die "dunklen Flöten des Herbstes" (V.14), was automatisch zu einem Spannungsabfall führte. Nun meldet sich das lyrische Ich mit der Interjektion "O" äußerst expressiv zu Wort und gedenkt mit den Worten "stolzere Trauer" (V.16) elegisch der toten Soldaten. Mit welchem Respekt den Soldaten gegenüber gestanden wird, macht die Steigerung des Adjektivs deutlich. Es ist nicht nur eine stolze, sondern eine "stolzere Trauer", die den gefallenen Soldaten zu Gute kommt, um ihnen die letzte Ehre zu erweisen. Die "Altäre" (V.15) vergleichen das Kriegstreiben mit einem opferungsähnlichen Prozess, aus dem es, wie auch bei einer Opferbringung, keinerlei Hoffnung auf ein Überleben gibt. Durch die "ungebornen Enkel" (V.17) projiziert das lyrische Ich die gesamte Situation in eine neue, zukunftsorientierte Ebene. Unter einem Enkel versteht man das Kind seines Kindes. Um Enkel zu haben, "benötigt" man also erst einmal selber Kinder. Das alles braucht Zeit wie auch das Verkraften eines traumatischen Erlebnisses, etwa eines Krieges, der noch bis in die Folgegenerationen seine Wirkung hat. Dieser "gewaltige Schmerz" (V.16) lastet nicht wie nur vermutet auf einzelnen, sondern steht als Synekdoche für das ganze Volk. Erneut fällt dabei eine Verknüpfung von mehreren Sinneseindrücken auf, die im Gedicht miteinander verknüpft werden. Die visuelle Wahrnehmung einer "heiße[n] Flamme"(V.16), wird mit dem Tastsinn in Verbindung gebracht.
Insgesamt scheint das Gedicht so konzipiert, die Sinne des Menschen anzuregen. Schon in Vers 4 ("Düstrer hinrollt") verbinden sich mit Optik und Akustik zwei unterschiedliche Sinneseindrücke, die darüber hinaus onomatopoetisch wirken. Weitere akustische Elemente stellen das "[T](...)önen" (V.1), die "Klage" (V.5), sowie die "Flöten" (V.14) dar.

"Georg Trakl bringt in seinem Gedicht sein persönliches Entsetzen über die Realität des Krieges zum Ausdruck. Der Krieg zerstört jede Harmonie, entfesselt ein Chaos, entmenschlicht die Beteiligten und steht im absurden Gegensatz zur Ruhe der Natur." 11